„Wir müssen uns darauf einstellen, dass hier in Europa die Basisversorgung infrage gestellt wird“ – Konferenz mit Ulrich Brand
Ideen für eine Postwachstumsgesellschaft brachte der Politikwissenschaftler Ulrich Brand nach Luxemburg. Am 30. Januar sprach er auf Einladung des Mouvement Ecologique vor einem gut gefüllten Saal mit interessierten Zuhörern:innen.
„Die wahnsinnige Abhängigkeit vom Wachstum ist ein zentrales Problem und schafft Instabilität!“ Das sagt Professor Ulrich Brand, der auf Einladung des Mouvement Ecologique am 30. Januar in Luxemburg einen Vortrag hielt. Kritisiert werde hier nicht das Wachstum, wodurch etwa das Gesundheitssystem verbessert wird, oder in manchen Ländern eine Basisversorgung entsteht. Kern der wachstumskritischen Debatte sei vielmehr der Umstand, dass Krise herrscht, wenn das Bruttosozialprodukt nicht wächst. Über diese problematische Abhängigkeit herrsche ein Konsens, sagt Brand (oder wenigstens ein gemeinsames Kopfnicken). Welche Folgen diese Erkenntnis für die Politikgestaltung, die wirtschaftliche Orientierung und die allgemeinen Alltagsverhältnisse habe, sei jedoch aus seiner Sicht eine offene Frage.
Brand fragt: „Wie, kann eine Wirtschaft organisiert werden, die nicht systematisch auf Kosten anderer und auf Kosten der Natur lebt?“ So nämlich sieht für ihn eine zukunftsfähige Wirtschaft aus. Ob eine solche Wirtschaft schlussendlich aus Dienstleistungen, Industrie oder Landwirtschaft besteht, ist offen.
Fünf zentrale Überlegungen
Brand basiert seinen Diskurs auf fünf Überlegungen
Erste Überlegung:
„Natürlich wissen wir seit 30 Jahren um die Klimakrise, aber die heutige Zuspitzung ist neu. Und ich glaube, wir haben das noch gar nicht begriffen.“ Zu lange haben zu viele Menschen in Europa vermutet, dass der Klimawandel vor allem den globalen Süden trifft und nicht damit gerechnet, dass sie von Starkregen, Hitzewellen und Hochwasser betroffen sein werden.
Politisch hoch relevant ist Brands Aussage: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass hier in Europa die Basisversorgung infrage gestellt wird.“ Demnach könnte es in Zukunft auch in Europa immer wieder zu Problemen mit der Versorgung von Süßwasser oder landwirtschaftlichen Erzeugnissen kommen oder einer Situation, in der Infrastruktur durch Starkregen „weggespült“ wird (so, wie es 2021 im Ahrtal passiert ist). Heute müsse deshalb auch mehr über Klimaanpassung gesprochen werden.
Wissenschaftler:innen unterstützen eine Generation von Klebe-Aktivisten
Brand geht auf die Protestbewegungen ein, die seit einigen Jahren verstärkt entstehen. „Ich glaube, dass es eine Generation gibt, die begriffen hat, dass „das Zeitfenster sich schließt“ und dass wir einen „System Change“ brauchen. Als Wissenschaftler: innen haben Brand und seine Kollegen auch bereits eine „Klebe-Aktion“ der letzten Generation in Wien unterstützt.
Zweite Überlegung:
Es gelte immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Klimakrise sehr viel mit Macht und Ungleichheit zu tun hat. „Es ist eben nicht so, dass alle Menschen gleich betroffen sind“, moniert Brand. Es herrscht eine Diskrepanz zwischen den Verursachern und den Opfern der Klimakrise. Das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung, verursacht mehr Klima-Emissionen als die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung. „Wenn wir über Klimapolitik sprechen, müssen wir die soziale Dimension systematisch mitdenken“, erinnert Brand.
Dritte Überlegung:
Brand sieht drei Tendenzen auf der Suche nach einem nachhaltigen Gesellschaftsmodell. Stellvertretend für die erste Tendenz stehen Donald Trump und Jair Bolsonaro. Sie negieren den Klimawandel und scheren sich nicht um Nachhaltigkeitsfragen. Sie wollen den Wohlstand im Norden (Trump) oder bei den Reichen (Bolsonaro) halten.
Europas „grüner Kapitalismus“ bedingt „grünen Kolonialismus“
Die zweite und dominante Tendenz ist die ökologische Modernisierung des Kapitalismus. Es handelt sich um die Vorstellung, dass das Klima gerettet werden kann, indem die Energiebasis umgestellt wird – wenn Autos etwa nicht mehr mit Benzin, sondern mit Strom fahren (Stichwort: Dekarbonisierung). Wachstum, Auto, Fleischkonsum und hoher Energieverbrauch werden von diesem Paradigma nicht infrage gestellt, erklärt Brand. „Ich nehme den Politikern und Firmenchefs ab, dass sie wirklich Dekarbonisierung wollen. Aber alle Studien zeigen, das reicht nicht.“ E-Autos zum Beispiel brauchen erhebliche Ressourcen (Lithium, Kobalt, Kupfer usw.). Ein Thema sei dann auch derzeit in Südamerika der „grüne Extraktivismus“, berichtet Brand. Europäische Politiker fliegen demnach nach Lateinamerika um die Ressourcen für die Energiewende in Europa zu sichern. Brand geht so weit, von einem „grünen Kolonialismus“ zu sprechen.
Die Dritte Tendenz (die, die Brand sich wünscht), ist eine Postwachstumsgesellschaft (oder solidarische Lebensweise). Darunter versteht er eine Gesellschaft, die den Wachstumszwang und dem Mythos des grünen Wachstums hinterfragt und überwindet.
Vierte Überlegung:
Die Globalisierung hat zu enormer Produktivität und vielfach zu Wohlstand geführt. Gleichzeitig bedeutet die Globalisierung aber auch „ökologische Raserei“. Handys werden in China produziert, das Soja in Brasilien, die Klamotten in der Türkei, in Kambodscha und Bangladesch. Für diese Lebensweise haben Brand und sein Ko-Autor Markus Wissen den Begriff „imperiale Lebensweise“ geprägt. Die beiden Wissenschaftler wollten verstehen, wie sich diese Globalisierungsprozesse in den Alltag der Menschen einschreiben. Die Menschen, so Brand, kaufen Billigfleisch, Elektronik oder Billigklamotten nicht, weil sie böse oder zynisch sind, aber die Umstände der Produktion spielen bei der Kaufentscheidung kaum eine Rolle. „Imperiale Lebensweise heißt, dass unsere Lebensweise möglich ist, weil wir auf Produkte zurückgreifen können, die mit billiger Natur und billiger Arbeitskraft andernorts produziert werden“, fasst Brand zusammen. Dies allerdings werde „unsichtbar“ gemacht, sagt Brand. Um auf den Weg einer Postwachstumsgesellschaft zu gehen, müsse man erst verstehen, wie tief diese imperiale Lebensweise verankert ist. Dekarbonisierung allein, – so wichtig sie auch ist, – bricht eben nicht mit der imperialen Lebensweise. „Wir müssen unsere Wirtschaft und Lebensweise viel grundlegender umbauen“.
Hier liegt ein Problem. Denn für die meisten Menschen, so Brand, bedeutet ein gutes Leben, dass man mehr hat – ein größeres, neueres und schnelleres Auto, ein Handy, eine Flugreise zum Beispiel. Das wird von der Werbung und der Politik so suggeriert. Brand nimmt auch die „ökologisch bewusste Szene“ nicht aus. „Wir wissen aus Studien, dass der ökologische Fußabdruck nicht so sehr mit dem Bewusstsein zu tun hat, sondern mit dem Einkommen. Der ökologische Fußabdruck wächst mit dem Einkommen.“
Wegen dem „Run auf Ressourcen“ nehmen internationale Konflikte zu. Brand kritisiert deswegen auch die Süd-Amerika-Reise des deutschen Kanzlers Olaf Scholz. Dessen „Ressourcendiplomatie“ sei „nicht besonders diplomatisch“. Die Ressourcen gehen zu dem der mehr Geld auf den Tisch legen kann, sagt Brand.
Letzte Überlegung:
Brand denkt an seine Studierenden, wenn er sagt: „Die junge Generation kann vor individueller Verantwortung kaum gehen.“ Diese jungen Menschen fühlen sich in einem besonderen Maße verpflichtet, grün und vegan zu leben – und haben den Eindruck, dass sonst die Welt zugrunde geht. Brand warnt vor dieser Individualisierung der Verantwortung. „Ich halte es für wichtig verantwortungsvoll zu konsumieren. Aber das reicht nicht“, so Brand weiter. Wie recyclingfähig das übernächste Handymodell ist oder wie der Verkehr gestaltet werden wird, entscheiden schlussendlich nicht die Konsument:innen sondern andere.
Auch das „ganz große Setzen auf Technologien“ kritisiert Brand. „Natürlich brauchen wir gute Technologien“, sagt Brand. Aber auch das werde nicht reichen. Das fokusieren auf Technologien berge die Gefahr eines falschen Versprechens. (Zum Beispiel Wasserstoffflugzeuge, statt weniger Fliegen).
Das Postulat einer solidarischen Lebensweise hingegen fordert einen tiefgreifenden Umbau des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. „Es reicht nicht, die Ressourcen auszuwechseln und anders zu konsumieren. Es braucht andere wirtschaftliche Logiken. Raus aus der Fokussierung auf Wachstum.“ Andere politische Rahmenbedingungen und Interessenkonstellationen müssten her. (Letzteres meint zum Beispiel die heute noch sehr starken Interessen der Finanzindustrie).
Den Mini-Panzer, den wir SUV nennen, braucht es nicht
Während seines Vortrags lieferte Brand keine servierfertigen Lösungen. Dafür aber Prinzipien (bzw. Bedingungen), nach denen diese Lösungen gestaltet werden müssen.
Zum einen sollte ein Prinzip sein, nicht mehr auf Kosten anderer und der Natur zu leben – und nicht mehr auf ihre Kosten leben zu müssen. Das heißt, niemand sollte mehr darauf angewiesen sein, ein Auto zu besitzen oder aufs Land zu ziehen. „Es gilt gesellschaftliche Bedingungen zu haben, unter denen ich auskömmlich leben kann“, sagt Brand.
Zweites Prinzip müsste sein, so Brand, dass Konsum nicht Privatsache ist. Genauso wie es Untergrenzen von Konsum gibt (was braucht man um auskömmlich zu leben?) brauche es Obergrenzen. Brand stellt zur Debatte, ob „ein Minipanzer, den wir SUV nennen“ nicht über einer solchen Obergrenze liegt. Nach „harten Konflikten“ müsse gesellschaftlich festgelegt werden, dass „es nicht geht, ein Auto von dieser Größe zu haben“. Auch ein Fleischkonsum, der unter tierethisch unmöglichen Bedingungen produziert wird dürfte es Brand zufolge nicht geben – „so wie wir heute im Klaren darüber sind, dass Kinderarbeit nicht geht (was lange erkämpft wurde), sollte in einer solidarischen Gesellschaft klar sein: Billigfleisch geht nicht!“.
Als drittes Prinzip schlägt Brand vor, dass das Trachten nach Profiten in Unternehmen infrage gestellt wird und stattdessen die Sorge um Mitmenschen, Gesellschaft und Umwelt in den Vordergrund rückt. Das bedeutet, dass erst einmal systematisch geprüft wird, ob und sichergestellt wird, dass die grundlegende Versorgung für alle gesichert ist. Brand nennt: Bildung, Gesundheit, gute Lebensmittel, gute Wohnmöglichkeiten und ein sinnerfülltes Leben. „Das ist eine totale Umkehrung der Perspektive, dass ich mir, wenn ich genug Geld habe, einen dritten SUV kaufe“, so Brand.
Die Rolle der Gewerkschaften
Brand ist es wichtig, dass diese Ideen nicht mit dem Wort „Verzicht“ beworben werden. „Ich habe viel mit Gewerkschaften gearbeitet. Beim Wort Verzicht gehen die Ohren physisch zu“, berichtet Brand aus seiner Erfahrung. „Und zwar zurecht. Denn wenn die Reichen und Mächtigen von Verzicht reden, dann meinen sie in der Regel Austerität, – Verzicht unten.“
Es dürfe eben keine „ökologische Austerität geben“, so dass die Armen den Gürtel enger schnallen müssen und die Reichen ins Weltall fliegen, um sich ein paar Minuten lang die Erde anzuschauen. Stattdessen sagt Brand: „Wir brauchen ein anderes Wohlstandsmodell.“
Es gelte Wohlstand anders zu definieren. Wenn Wohlstand viel stärker an den gesellschaftlichen Lebensbeding festgemacht wird als am individuellen Konsum, dann werde Wohlstand einkommensunabhängiger und damit ein stückweit Wachstumsunabhängiger.
Konfliktfrei wird dieser Wandel nicht verlaufen, prognostiziert Brand. Mächtige Interessen müssten zurückgewiesen werden, wozu es Auseinandersetzung und positive Narrative brauche. (Beispiel: „Zum Beispiel 2030 haben wir ein autobefreites Luxemburg“ statt „Autoverbot“ und „Autoverzicht“).
Schlussfolgernd sagt Brand: „Ich hoffe, es wurde klar, dass wenn wir über Post-Wachstum sprechen, es nicht um ein Ja oder Nein zu Wachstum geht. Denn ein Nein zu Wachstum heute bedeutet Krise und zwar auf dem Rücken der Schwächeren.“ Und weiter: „Es geht darum, wie wir es schaffen, gesellschaftliche Tendenzen und Entwicklungen zu fördern, um die Wachstumsabhängigkeit kleiner werden zu lassen. Das heißt im Kapitalismus auch kapitalistische Wachstumsinteressen – Profitinteressen – zurückzudrängen“.
Politiker die es richtig machen wollen, müssen die Wachstumsraison überwinden
Wohlwissend, dass in Luxemburg zwei Wahlen bevorstehen, gibt Brand einen Ratschlag mit auf den Weg. „Parteien, die an Regierungen beteiligt sind, oder in die Regierung wollen, übernehmen die Staatsraison“, zitiert er den Soziologen Robert Michels. „Ich sage, die über nehmen die Wachstumsraison“. Aus dieser Tendenz müssten die Parteien „ausbrechen“. Auch progressive Parteien müssten zuerst die Wachstumsraison überwinden, so Brand vor dem Luxemburger Publikum.
03.03.23